Eine tiefe Begegnung
Es war eigentlich ein schon sehr gefüllter Tag für mich, an dem mich per Mail eine Anfrage von jemand erreichte, der unbedingt noch an diesem Abend einen Termin wollte. Ich war schon in Begriff zu antworten, dass das so kurzfrstig nicht möglich sei- aber irgendetwas hielt mich zurück. Vielleicht war es etwas, das zwischen den Zeilen von Sahibs Anfrage zu lesen war, das mich dazu veranlasst hat, den Termin doch noch zu bestätigen.
So kurzfristig und angesichts der Müdigkeit, die mir im Nacken saß, hätte ich normalerweise einen Ersatztermin vorgeschlagen.
Sahibs Anliegen: er wollte gerne ein Gespräch mit mir. Und vielleicht auch eine Körperarbeit. – „Es muss sicher sein,“, lauteten seine letzten Zeilen. Ich fragte, wovor er Angst hätte. Zurück erhielt ich nur die Antwort zur Bestätigung unseres Termins.
Er kam äußerst pünktlich.
Ich geleitete ihn ins „Nest“, bot ihm Kaffee und Tee an und registierte dabei, dass er direkt zusammengekauert am Sofa saß, den Blick immer noch gesenkt. Es dauerte eine Weile und ich füllte die Schweigephasen mit meinem Plaudern über mich und das „Nest“, ehe Sahib irgendwann zu reden begann…
Er erzählte, dass er eigentlich aus Saudiarabien komme, in Amsterdam lebe und nur wegen eines beruflichen Termins in Österreich sei. Und dann dann brach es unter Tränen wie eine Sintflut aus ihm heraus… „Weißt du, ich bin vielleicht schwul. Also, ich denke seit vielen Jahren immer an Männer. Aber ich kann keine Beziehung zu einem Mann haben. Das ist unmöglich…! Das ist haram in meiner Religion und auch für die Familie.“ Sahib erzählte… von seiner Familie, der er sich verpflichtet fühle und genau zu wissen glaubte, dass sie ihn wegen seiner Homosexualität verstoßen würden. Doch da wäre auch seine Angst vor den erstarkenden Rechten in seiner Stadt, für die er wegen seiner Herkunft ohnehin ein Dorn im Auge wäre und vor deren Repressalien er sich noch mehr fürchte, wenn sie über ihn „Bescheid wüssten“…!
Es wurde ein ungeplant langer Abend mit Sahib. Er wollte nicht alles preisgeben. Manches, sagte er, sollte ganz tief unten versteckt bleiben. Er hätte Angst, dass es ihn seelisch zerstören würde – dass seine Fassade dann völlig zum Einsturz kommen könnte, wenn er diese Dinge an die Oberfläche holen würde. Das respektierte ich vollkommen.
„Was wäre“, fragte ich ihn, „wenn du heute Abend einfach nur DU bist und wie ein Schiff in sicherem Hafen ankern würdest?“ Sahib lächelte. „Das Schiff ist aber groß und schwer“, sagt er. Ich lächelte zurück. „Schau dich um, der Raum ist groß. Das Schiff hat hier garantiert Platz“. Wir redeten lange an diesem Abend. Dabei kommunizierten wir wie in einer Art Geheimsprache. Alles, was ihn bewegte, sprach er nie direkt an. Zwischen den Zeilen wurde aber vieles deutlich.
Und dann, als Sahib die Worte fehlen, oder er einfach nicht mehr reden konnte, lud ich ihn ein zu einem Körperdialog. In einer Art gemeinsamen Tanz, den Sahib anführte, strahlte er neben seiner Verletzlichkeit auch mindestens so viel Kraft aus. Seine Bewegungen, am Anfang noch eher zaghaft und steif, wurden immer geschmeidiger. Direkt anmutig. Und selbstsicher. Er warf den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und begann seinen Körper zum Takt der Musik zu wiegen.
Und Sahib tanzte.
Seine Bewegungen waren ungestüm, dann wieder langsam und ruhig. Ich lud ihn durch meine Impulse ein, seine Geschichte ohne Worte zu erzählen – dabei führte nur sein Körper Regie.
Und Sahib tanzte.
Er wirkte aufgelöst, traurig, gleichzeitig ausgelassen und tief in Kontakt mit sich und seinen Gefühlen. Am Ende lachte er und es schien, als könnte er gar nicht mehr aufhören. „Worüber wir sprechen ist haram. Der Körperdialog ist haram. Alles ist haram in meinem Leben“, rief er. Sein Lachen verebbte und in seine Stimme mischte sich eine unüberhörbare Wut. Sekunden später war da wieder das Lächeln von vorhin. Und damit auch seine gut geübte Fassade. Seine letzten Worte, als er ging, habe ich noch im Ohr…
„Vielleicht werde ich nie mehr kommen können. Es ist ein weiter Weg von Amsterdam daher. Aber irgendwie ist es so gut, zu wissen, dass es einen Hafen gibt, in dem ich sein kann.“
Als er das Auto in der Einfahrt wendete, dachte ich noch- es wäre doch schön, wenn das Schiff einen neuen Kurs nehmen könnte. Vielleicht in Richtung einer Heimat für Sahib.
Ich erinnere mich an so viele, die hier ankommen, um vielleicht für diesen einen Moment die Ansprüche loszuwerden, die sie von ihren Familien und den Traditionen / der Religion, aufgebürdet bekommen. „Sei, wie wir es für dich bestimmt haben und wofür du bestimmt bist, um dazuzugehören“, so lautet das Manifest der Verfügung. Für einen Menschen, der frei von solchen Doktrinen aufwachsen durfte, ist es nicht leicht nachzuvollziehen, wie es sich anfühlen muss, wenn man sich erst aus der Umklammerung der familiären, traditionellen oder religösen Befehlsgewalt befreien muss. Und erst recht, wenn man es nicht tut. Oder nicht tun kann. Weil Familie den höchsten Stellenwert hat und sie zu enttäuschen einen möglichen endgültigen und nicht widerrufbaren Verstoß zur Folge hätte.
Für „uns“ – die in liberalen Elternhäusern aufgewachsen sind und die Freiheit genossen haben, sich ganz individuell entfalten zu dürfen, ist die Angst vor dem Verlust der Familie schon schwer begreiflich. Erst recht die Angst, ohne die Ursprungsfamilie nicht überlebensfähig zu sein. Die Begegnung mit Sahib hat mich daran erinnert, wie fragil das Gebilde der Freiheit sein kann und wie wichtig es für uns alle ist, die diese Freiheit als selbstverständlich ansehen, unermüdlich dafür einzustehen.
Dafür, dass jeder Mensch die Chance erhält ein selbstbestimmtes Leben zu führen – ohne Angst vor Beschämung oder Ausgrenzung.
Liebe Grüße, Mikael
*ich bitte um Verständnis, dass alle Angaben, die zur Identifizierung meines Klientens führen könnten, anonymisiert bzw. zu seinem Schutz verfälscht wurden.